Das Bundesgericht lehnt die Gesuche zweier Basler Eltern um Dispensation ihrer Kinder vom Sexual- kundeunterricht im Kindergarten und in den ersten zwei Primarklassen ab. Anerkannt hat das Gericht, dass Sexualkundeunterricht in das Erziehungsrecht der Eltern, in den Schutz des Familienlebens und in die Glaubens- und Gewissensfreiheit eingreift. Hingegen sei von einem bloss «leichten» Eingriff auszugehen, da nur «reaktiver» und kein systematischer Unterricht geplant sei. Daher brauche es für diesen Unterricht keine explizite gesetzliche Grundlage. Das Bundesgericht hält den Unterricht zudem für verhältnismässig, bemerkt aber gleichzeitig völlig widersprüchlich, dass sich das öffentliche Interesse auch erreichen liesse, wenn der Unterricht erst «in höheren Klassen erteilt würde». Damit schwenkt das Bundesgericht auf die Leitlinie der Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» ein, die im Frühjahr 2016 zur Volksabstimmung kommen wird. Zudem überlegen sich die Basler Eltern, den inhaltlich wider- sprüchlichen Entscheid an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGHMR) weiter- zuziehen.
Die Basler Eltern nehmen den Entscheid des Bundesgerichts mit Unverständnis und Enttäuschung entgegen. Auf der einen Seite bestätigt das Bundesgericht ausdrücklich, dass Sexualunterricht in verfassungsmässige Grundrechte eingreift und das öffentliche Interesse an diesem Unterricht auch mit Unterricht «erst in höheren Klassen» erreicht würde. Andererseits qualifiziert es den Grundrechts- eingriff als nur «leicht» und als verhältnismässig. Damit konnte es die Dispensationsgesuche argumen- tativ dennoch ablehnen.
Das Bundesgericht verwickelt sich in Widersprüche
Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts ist nicht frei von Widersprüchen. Gemäss Grundrechts- lehre ist zum Beispiel die Verhältnismässigkeit dann nicht gegeben, wenn das Ziel mit einem weniger schweren Grundrechtseingriff erreicht werden kann. Wenn also das Ziel des Sexualkundeunterrichts mit einem Unterricht «in höheren Klassen» erreicht werden kann, ist die Verhältnismässigkeit der Ablehnung von Dispensationsgesuchen in tieferen Klassen nicht gegeben. Allein schon deshalb hätte das Bundesgericht den Eltern Recht geben müssen.
Auf Unverständnis stösst auch die Aussage des Bundesgerichts, der geplante Sexualkundeunterricht sei nicht systematisch, sondern nur reaktiv vorgesehen. Das Bundesgericht erkannte nicht, dass gerade das Vorliegen eines Lehrplans mit Lernzielen für Sexualkundeunterricht in Basel-Stadt den Beweis für systematischen Sexualkundeunterricht darstellt. Oder sind neuerdings Lehrpläne und Lernziele nur dann einzuhalten, wenn Kinder zufälligerweise Fragen stellen?
Den beschwerdeführenden Eltern steht noch der Gang an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte offen. Mit dem Entscheid hat das Bundesgericht indirekt der Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule» das Wort geredet. Diese Volksinitiative sieht zwar Präventionsunterricht vor Kindsmissbrauch ab Kindergarten vor, Sexualkundeunterricht soll aber
erst «in höheren Klassen erteilt werden». Die Initiative will keinen Sexualkundeunterricht vor dem neunten Altersjahr. Die Abstimmung dazu findet voraussichtlich im Frühjahr 2016 statt.
28.11.2014